Predigt Karfreitag 2022
Zu Beginn wurde das Musikvideo To Let Somebody Go von Coldplay gezeigt
(https://www.youtube.com/watch?v=CWCMGIG1Y54).
Mein Telefon klingelt. Am Apparat ist die Sozialarbeiterin der Hennefer Unterkunft für Wohnungslose. Wir kennen uns, stehen in engem Kontakt. Ihre Stimme klingt besorgt. Einem Wohnungslosen geht es schlecht, sehr schlecht sogar. Der jahrzehntelange Alkoholkonsum hat seinem Körper geschadet. Er muss dringend ins Krankenhaus, wehrt sich aber mit Händen und Füßen. „Vielleicht kannst Du ihn überzeugen?“, fragt sie. Als ich wenig später an seinem Bett sitze, spüre ich schnell, dass meine Überzeugungsarbeit keinen Erfolg haben wird. Und überhaupt … welches Recht habe ich, diesem Menschen zu sagen, was gut oder schlecht für ihn ist? Ich habe doch gar keine Ahnung, wie übel ihm das Leben mitgespielt hat, wie tief seine Verletzungen sitzen. Wenige Tage später meldet sich die Sozialarbeiterin erneut. Nachdem der Bewohner in seinem Zimmer zusammengebrochen ist, wurde er doch noch ins Krankenhaus gebracht. Doch alle Hilfe kam zu spät. Leber- und Nierenversagen … mit 51 Jahren.
Vergangene Woche … ich gehe mit meinem Sohn zu einer Trauerfeier, die alles nur nicht normal ist. Einer seiner ehemaligen Klassenkameraden ist gestorben. Er litt seit 3 Jahren an Krebs. Was für eine Tragödie … ein Kind, gerade einmal 11 Jahre alt. Alle sind in bunten Kleidern gekommen. Er wollte es so. Auf der Trauerkarte steht: 3843 Tage Glück. Mir fehlen die Worte. Gottverdammtes Leben.
Über den Bildschirm flimmern Bilder aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha. Ein Mann liegt kopfüber im Rinnstein … Arme und Beine unnatürlich verschränkt. Neben seinem leblosen Körper eine Einkaufstasche, aus der ein paar Kartoffeln gerollt sind. Wollte er sich mit dem Nötigsten versorgen, als er niedergeschossen wurde? Das unerträgliche Bild brennt sich tief in mein Gedächtnis ein. Wie kann man ein menschliches Leben so geringschätzen?
Drei Szenen der vergangenen Wochen … drei Szenen aus meinem persönlichen Alltag, die mir noch einmal vor Augen geführt haben, wie allgegenwärtig der Tod ist. Der Tod, der in den allermeisten Fällen am Ende eines gelebten Lebens steht, Folge körperlicher Erschöpfung ist. Der Tod aber auch, der auf unfassbar tragische Weise in unser Leben treten kann … sinnlos und ungerecht, abgründig und grausam.
In unserem Alltag müssen wir die Allgegenwart des Todes verdrängen. Wir würden vor Angst erstarren, wenn wir immer und überall an sie denken. Aber heute verdrängen wir nichts. Denn heute … am Karfreitag … schauen wir auf das Kreuz und auf das Kreuz zu schauen, bedeutet im Grunde … oder sollte man besser im Abgrunde sagen … nichts anderes, als auf den Tod zu schauen oder vielmehr auf einen Toten.
Gerade einmal Anfang 30 ist er … als man ihn aus machtpolitischen Gründen gefangen nimmt und foltert. Ausgestattet mit einem Purpurmantel und einer Dornenkrone, führt man ihn vor eine pöbelnde Menge, die über sein Schicksal entscheiden soll. Und was schreit der Mob? Der Mob schreit: Kreuzige ihn! Und nachdem der junge Mann den Balken, an dem er wenig später sterben soll, zur Hinrichtungsstätte geschleppt hat und auf halbem Wege zusammengebrochen ist, schlägt man ihn ans Kreuz und zieht ihn – vor aller Augen – nach oben.
Ja, Jesus von Nazareth, den man später den Christus Gottes genannt hat … nennen musste … ist einer mehr in der Reihe der Toten. Und zwar nicht nur in der Reihe derjenigen, die am Ende eines langen und erfüllten Lebens gestorben sind, sondern in der Reihe derjenigen, die auf tragische Weise ums Leben kamen … sinnlos und ungerecht, abgründig und grausam. Ja, in Jesus Christus hat ‚Gott‘ sich in die Reihe der Toten gestellt. Er ist einer von ihnen … er ist einer von uns geworden.
Doch gerade heute … am Karfreitag … an dem wir der Macht des Todes ins Gesicht schauen, will ich noch ein Wort darüber verlieren, was wir dieser Macht entgegenhalten können. Deswegen habe ich gerade das Musikvideo To Let Somebody Go von Coldplay gezeigt. Auch wenn wir es hier mit einem ziemlich eingängigen Lied zu tun haben, passt es zur existentiellen Härte des Karfreitags. Denn es verleugnet den Tod nicht … im Gegenteil. Es handelt von den unhintergehbaren Abschieden, die zu unserem Leben gehören und es handelt von der tiefen Trauer, die mit diesen Abschieden verbunden ist. Oh it hurts like so, to let somebody go. Oh es tut so weh, jemanden gehen zu lassen.
Doch als ob dieses Lied dem Schmerz noch etwas entgegenhalten will, von dem es gezeichnet ist, gibt es uns am Ende eine Art Empfehlung mit auf den Weg. Chris Martin singt: When you love somebody, you got to let somebody know. Wenn Du jemanden liebst, dann musst du es ihn wissen lassen.
In einem Leben, das jederzeit vom Tod zerschnitten werden kann, sollten wir versuchen, den Menschen, die wir lieben, von dieser Liebe zu erzählen. Denn diese Liebe ist das unzerstörbare Band, das uns verbindet … in diesem Leben und über dieses Leben hinaus. Klar, einem anderen Menschen seine Liebe zu gestehen, ist alles andere als leicht. Schließlich bedeutet es, sich in seiner Angewiesenheit zu zeigen. Es bedeutet, sich angreifbar und verletzlich zu machen. Und doch: In einem Leben, das jederzeit vom Tod zerschnitten werden kann, ist die Fähigkeit, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, das Einzige, das bleibt.
Wie schreibt Paulus auf unverkennbar poetische Weise: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.
Und war das nicht auch die unverwechselbare Botschaft des jungen Mannes, der vor über 2000 Jahren in die Reihe der Toten gestellt wurde? War das nicht die Botschaft, für die er gelebt hat, für die er gestorben ist und für die er tagein tagaus aufersteht … in die Herzen und Köpfe der Menschen? Haltet mit eurer Liebe nicht hinterm Berg. Lasst sie durch euch hindurchfließen wie einen niemals endenden Strom. Lasst euch von ihr mit- und fort- und manchmal sogar zerreißen, denn nur wer bereit ist, sich zu verlieren (um des anderen willen), der wird sich gewinnen. Nur wer bereit ist, sich zu geben (um des anderen willen), der wird sich aus seinen Armen empfangen.
You can't have your cake and eat it
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 2. Buch Mose, Kapitel 33: Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.
Liebe Gemeinde, Mose sehnt sich danach, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Eine Sehnsucht, die in Anbetracht seiner Lage mehr als verständlich ist. Zum einen sollte er ein ganzes Volk in ein unbekanntes, gelobtes Land führen, ohne den Gott, der dieses Land versprochen hatte, jemals gesehen zu haben. Zum anderen waren es seine Landsleute selbst, die unbedingt nach einem sichtbaren Zeichen verlangten. Nur Tage zuvor hatten sie ein goldenes Kalb gegossen, um ihrer Sehnsucht nach einem allzeit präsenten Gott Ausdruck zu verleihen.
In Anbetracht dieser Situation wäre es wirklich hilfreich gewesen, wenn Mose mit einer unmittelbaren Gottesbegegnung hätte aufwarten können, wenn er einen sichtbaren Beweis für die Existenz Gottes in Händen gehalten hätte. Aber … diese Lektion muss er lernen …. Gott kann nicht angeschaut werden. Er muss unsichtbar bleiben. Gott darf nicht in der Welt des Sichtbaren aufgehen, sonst wären nicht nur er, sondern auch wir verloren. Aber warum ist das eigentlich so? Warum muss Gott unsichtbar bleiben. Ich will 2 Gründe nennen:
Der erste Grund wird in unserem Predigttext von Gott selbst vorgetragen. „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Dieser Satz ist nicht als Drohung zu verstehen. Ganz in dem Sinne, dass der Tod eine Art Strafe für das Anschauen Gottes wäre. Nein, dieser Satz hat keinen moralinhaltigen Beigeschmack. Er spricht einfach aus, was ist. Kein Mensch wird leben, der Gott sieht. Oder anders gewendet: Wenn es überhaupt jemanden gibt, der Gott sieht, dann sind es die Sterbenden oder die Toten.
Aber warum ist das so? Es hat damit zu tun, dass das Göttliche außerhalb unserer Ordnungen steht. Es passt nicht in die Formen und Muster, mit denen wir unsere Wirklichkeit wahrnehmen. Ja, Gott ist nicht Teil der Ordnung, die uns umgibt und die wir selbst mit Hilfe unseres Verstandes erzeugen. Gott ist außerordentlich. Deswegen kann er auch unter den Bedingungen der Welt nicht angeschaut werden. Wenn überhaupt dann werden wir ihn schauen, wenn wir die Ordnungen dieser Welt verlassen, wenn wir uns ins Außerordentliche hinein auflösen, wenn wir sterben.
Und dann ist dort ein 2. Grund, warum Gott nicht in der Welt des Sichtbaren aufgehen kann. Natürlich … seit es Menschen gibt, gibt es auch die menschliche Sehnsucht danach, Gott zu schauen. Aber – und das wird häufig vergessen – hinter diesem frommen Wunsch verbirgt sich meist das Ende aller Frömmigkeit. Denn hinter diesem frommen Wunsch verbirgt sich der Versuch, das Außerordentliche in unsere Ordnungen zu überführen, es verstehbar, begreifbar zu machen. Ja, hinter diesem frommen Wunsch verbirgt sich letztlich der Versuch Gott in den Griff zu bekommen, ihn zu beherrschen. Gott aber entzieht sich diesem Ordnungswillen des Menschen. Er lässt sich nicht in den Griff kriegen. Er bleibt geheimnisvoll. Er ist nur im Entzug präsent. Er zeigt sich, indem er sich verbirgt.
Vor diesem Hintergrund bleibt natürlich zu fragen, ob dieser entzogene, dieser geheimnisvolle Gott, ein Gott ist, vor dem wir zittern müssen? Ich hoffe nicht. Zumindest spricht vieles, was wir aus der jüdisch-christlich Überlieferung wissen, dagegen. Das Göttliche möchte uns nicht schaden. Im Gegenteil, es will uns retten. Aber … und das muss im Hinblick auf unseren Predigttext gesagt werden … diese Rettung geschieht nicht nach unseren Wertmaßstäben. Sie ist nicht mit einer Rettung zu verwechseln, die vorhersehbar wäre, die sich z.B. mit guten Werken einkaufen ließe. Nein … „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“, sagt Gott. Selbst die Rettung Gottes bleibt geheimnisvoll, sie steht außerhalb jeder Ordnung, sie entzieht sich unseren Kategorien von gut und böse, hoch und tief, richtig und falsch. Sie ist eben – zum Glück – nicht menschlich, sondern göttlich.
Halten wir fest: Gott muss unsichtbar bleiben. Er muss unsichtbar bleiben, weil er unsere Ordnungen sprengt und weil wir aus allen Ordnungen herausfallen würden, wenn wir ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen. Und Gott muss unsichtbar bleiben, damit wir ihn nicht gewaltsam in unsere Ordnungen zwängen, ihn hineinstecken in die Schubladen unseres Denkens und ihn dabei – ganz nebenbei – zu einem Götzen degradieren.
So weit so gut … doch unsere Geschichte geht noch weiter. Gott hat Verständnis für das besondere Begehren des Mose und macht ihm – wie ich finde – ein ziemlich überraschendes und zugleich liebevolles Angebot. Er gibt ihm die Möglichkeit, ihm zu begegnen, ohne ihn zu sehen. Eine Begegnung, die Gott also nicht festnagelt auf die Vorstellungen des Mose, die ihn nicht aufgehen lässt in seinen Ordnungen und die trotzdem einen unverwechselbaren Kontakt ermöglicht. Die Geschichte ist rätselhaft. Mose soll sich in eine Felsspalte stellen und aus dieser Spalte, aus diesem Winkel heraus, darf er Gott sehen. Allerdings darf er Gott nicht direkt ansehen, er darf ihn erst im Nachgang betrachten. Er muss warten, bis er an ihm vorübergegangen ist. Wie lässt sich dieses geheimnisvolle Bild verstehen?
Zunächst bedeutet es m.E. folgendes: Das Göttliche, das Außerordentliche können wir nur durch eine Art Spalt, durch eine Art Riss betrachten. Oder anders gesagt: Es gibt Augenblicke, in denen unsere menschlich allzumenschliche Ordnung Risse bekommt und den Blick auf das Außerordentliche freigibt, das hinter ihr liegt. Dies sind keine Augenblicke, in denen wir das Göttliche sicher haben … aber in denen wir eine erste Ahnung davon bekommen, was geschieht, wenn es auf uns zukommt.
Im christlichen Glauben gibt es ein zentrales Beispiel für einen solchen Riss in der Ordnung – Jesus von Nazareth selbst. Durch ihn wird das Außerordentliche sichtbar. Diese Einsicht des Glaubens kommt z.B. in der Erzählung von Jesu Tod zum Ausdruck. Als Jesus stirbt, reißt der Vorhang des Jerusalemer Tempels von oben nach unten entzwei. Und durch den Riss wird der Blick auf das Allerheiligste, auf das Außerordentliche frei, das hinter ihm liegt. Ja, das ist christlicher Glaube, dass wir in und durch die Figur Jesu für Augenblicke ins Außerordentliche schauen können, dass sein Kreuz der Riss, die Spalte ist, die unsere Ordnungen auf das Göttliche hin öffnet. Aber … und das ist an dieser Stelle von entscheidender Bedeutung … auch Jesus haben wir nie sicher. Auch ihn können wir nicht einfach in unsere Welt der Ordnungen und Dogmen überführen. Wir können dem Geheimnis seiner Göttlichkeit nur auf immer wieder neue und andere Weise nachdenken und nachspüren, mehr nicht.
Ja, es gibt Augenblicke in unserem Leben, in denen das Licht des Außerordentlichen wie durch einen Riss durch den Vorhang unseres Bewusstseins fällt. In diesem Leben kann es sich dabei aber nur um Momentaufnahmen handeln … denn dauerhaft kann kein Mensch auf das Außerordentliche schauen … ohne aus der Ordnung zu fallen. Ebenso wenig wie ein Mensch dauerhaft auf das Kreuz blicken kann – wenn er es denn ernst nimmt – ohne dabei verrückt zu werden. Deswegen gibt es im gesamten Kirchenjahr auch nur einen einzigen Tag, an dem wir das ohne angezogene Handbremse tun, am Karfreitag.
Doch es gibt noch eine 2. Bedeutung, die sich hinter dem rätselhaften Bild von Mose und der Felsspalte verbirgt: Begegnungen mit dem göttlichen Geheimnis werden uns häufig erst im Nachgang bewusst. Wir können sie erst wahrnehmen, wenn wir mit einem gewissen Abstand, mit einer gewissen Erfahrung auf sie schauen. Genauso wie Mose Gott nur im Nachgang wahrnehmen kann. Er muss warten bis er an ihm vorübergegangen ist.
Ja, auch diese Botschaft verbirgt sich hinter unserem Predigttext. Wenn Gott ganz nah ist, ahnen wir häufig nichts von ihm … erst im Nachgang können wir seine Präsenz wahrnehmen. Kennen sie z.B. die Erzählung von den Emmaus-Jüngern, die sich nach dem Tod Jesus auf den Weg zu ihren Gefährten machen und dabei nicht sehen, dass Jesus selbst mit ihnen geht. Erst als sie sich des gemeinsamen Abendmahls bewusst werden, fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Und als es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt, ist Jesus bereits verschwunden … natürlich … damit das Außerordentliche auch außerordentlich bleibt.
In unserem heutigen Predigttext muss Mose eine wichtige Lektion lernen. Er muss lernen, dass er Gott nur dann begegnen kann, wenn er ihn nicht zugleich besitzen möchte, wenn er ihn nicht überführt in seine persönlichen Bilder und Vorstellungen. Eine schwere Lektion, eine Lektion, die auch wir immer wieder lernen müssen. Ja, ich glaube Gott von ganzem Herzen zu lieben, heißt, sich nach ihm zu sehnen, ohne ihn zugleich in Besitz nehmen zu wollen. In der modernen Psychoanalyse gibt es z.B. eine witzige Redewendung. Sie lautet: "You can't have your cake and eat it." Du kannst nicht beides zugleich, einen Kuchen haben und ihn essen. Auf den Predigtgedanken übertragen, heißt das: Wir können Gott nur begegnen, wenn wir uns ihn nicht mit Hilfe unserer Ordnungen einverleiben. Vermutlich gilt das sogar für alle Dinge, die wir von ganzem Herzen lieben … wir müssen sie freilassen, um sie festhalten zu können.
Liebe Gemeinde, heute habe ich kompliziert gesprochen, in Rätseln vielleicht. Aber vielleicht habe ich heute auch eine der mutigsten Predigten gehalten, die ich bislang gehalten habe. Denn die Qualität einer Predigt – glaube ich – zeigt sich nicht daran, ob sie ganz einfache und griffige Antworten liefert, sondern ob sie auf die göttliche Frage aufmerksam macht, die all unseren Antwortversuchen zu Grunde liegt. Die Qualität einer Predigt zeigt sich eben nicht daran, ob sie ganz ordentlich daher kommt, sondern ob sie dazu bereit ist, das immer schon Geordnete zu stören, um auf das Außerordentliche zu zeigen.
I have a dream. Predigt zum Ewigkeitssonntag
Liebe Gemeinde, heute möchte ich mit einer Rede beginnen, die der Bürgerrechtler Martin Luther King, der 1968 bei einem Attentat ums Leben kam, gehalten hat. Eine Rede, die unter dem Titel „I have a dream“ … „Ich habe einen Traum“ berühmt geworden ist.
„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbst-verständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe heute einen Traum!“
Was würde Martin Luther King wohl sagen, wenn er auf das heutige Amerika blicken könnte. Vieles von dem, was er sich erträumt hat, ist leider nicht in Erfüllung gegangen. Wir erleben eine Nation, die tief gespalten ist. Auf der einen Seite stehen die Gewinner, auf der anderen Seite stehen die Verlierer der Gesellschaft und nicht selten ist diese Gewinn- und Verlustrechnung nach weiß und schwarz aufgeteilt … ja, was würde Martin Luther King wohl sagen, wenn er einen Blick auf das heutige Amerika werfen könnte? Mein Traum von einer besseren Zeit … leider ist er nicht in Erfüllung gegangen.
Und trotzdem ist diese Rede, die Martin Luther King im Jahr 1963 gehalten hat, eine ungeheuer wichtige und bedeutsame Rede. Sie müsste immer und immer wieder gehalten werden und das nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt. Es gibt so viel Ungerechtigkeit, so viele Missstände … da bedarf es der Menschen, die bereit sind zu träumen, sich auszuspannen in eine ferne Zukunft. Da bedarf es der Menschen, die davon erzählen, dass es eines Tages besser und anders zugeht auf dieser Welt. Ja, wir brauchen solche Träumer, solche Visionäre wie Martin Luther King, die uns wachrütteln und aufbauen zugleich.
Beim Autor des heutigen Predigttextes haben wir es ebenfalls – im besten Sinne – mit einem solchen Träumer zu tun. Er lebte vermutlich um das Jahr 60 n. Christus und sein Name war Johannes. Die Umstände unter denen Johannes und seine Glaubensgeschwister lebten, waren äußerst bedrängend. Das römische Reich wurde von dem unerbittlichen Kaiser Nero regiert, der die sogenannte Sekte der Christiani aufs Schärfste verfolgte. Viele Christen wurden auf unsagbar grausame Weise hingerichtet. Und inmitten dieser absoluten Hoffnungslosigkeit, inmitten auch der Trauer um den Verlust vieler Glaubensbrüder formulierte Johannes seinen ganz eigenen Traum. Er schrieb:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Liebe Gemeinde, für mich ist dieser Text aus der sogenannten Offenbarung des Johannes einer der beeindruckendsten Texte der Bibel. Was für eine wunderschöne Sprache … was für wunderschöne Bilder, die uns entführen in eine Welt der absoluten Geborgenheit, in eine Welt, in der alle Tränen getrocknet sind, in der es kein Leid, kein Geschrei mehr gibt. Und ich kann mir vorstellen, dass Johannes seine Mitmenschen mit dieser Sprache tief berührt hat, dass er sie weit hinausgetragen über all das Unglück, das ihnen vor Augen stand.
Beide Texte, der Text von Johannes und der viel jüngere Text von Martin Luther King, sind sich in einer Sache ähnlich. Es sind Protesttexte. Im Angesicht einer bedrückenden Realität, sprechen sie von einer neuen und anderen Wirklichkeit. Ja, Martin Luther King und Johannes protestieren. Sie weigern sich das Unglück, das sie trifft, einfach so hinzunehmen. Sie halten ihrem Elend einen Traum entgegen und von diesem Traum rücken sich nicht ab.
Nun sind viele von ihnen heute hier zusammen als eine Art Schicksalsgemeinschaft. Das eigene Leben hat Risse bekommen, es ist brüchig geworden, ein geliebter Mensch ist verlorengegangen. Ja, hier sitzen sie heute als Schicksalsgemeinschaft … in ihr Leben hat der Tod Einzug genommen, in ihre Hoffnungen hat sich die Hoffnungslosigkeit gemischt. Und wenn dieser Tag, der sogenannte Totensonntag, einen tiefen Sinn hat, dann besteht er vor allem darin, dass wir mit vereinten Kräften protestieren sollen, dass wir gemeinsam versuchen sollen unserer Hoffnungslosigkeit eine Hoffnung, unserem Abgrund einen Traum entgegenzuhalten.
Dabei ist mir eines ganz wichtig: Der Protest, der bei den beiden Träumern oder besser Visionären Martin Luther King und Johannes spürbar wird und der auch am Totensonntag laut werden soll, ist alles andere als eine belanglose Träumerei oder eine billige Vertröstung … ganz nach dem Motto: Alles wird gut. Alles halb so schlimm. Genau darin besteht der Protest, den wir bei Johannes oder Martin Luther King finden nicht. Beide reden das Schreckliche, das ihnen zugestoßen ist nicht klein. Beide entfliehen der Wirklichkeit nicht, die ihnen vor Augen steht. Aber beide halten dieser bedrängenden Wirklichkeit mit allem Glauben und mit aller Wut und Verzweiflung ihres Lebens eine andere Wirklichkeit entgegen.
Und vielleicht kommt es genau darauf an, wenn wir mit der Macht des Todes in Berührung kommen. Wir sollen vor dieser Macht nicht die Augen verschließen, aber wir sollen ihr eine ebenso starke, andere Macht entgegenhalten. Ich möchte ein Beispiel geben: Wenn ich eine Trauerfeier halte, dann gibt es immer einen Moment, der mich besonders bewegt. Es ist der Moment, in dem der Sarg oder die Urne ins Grab gelassen werden. Als Pfarrerin oder Pfarrer wendet man sich dann ganz dem Verstorbenen zu, nennt ein letztes Mal seinen Namen und spricht den sogenannten Abschiedssegen. Und wenn man den Abschiedssegen gesprochen hat, dreht man sich zu den Angehörigen um und spricht – zwischen dem Toten und den Lebenden stehend – das sogenannte Auferstehungswort. Jesus Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben und wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt.
Warum bewegt mich dieser Augenblick so sehr? Er bewegt mich, weil er mich immer wieder daran erinnert, welchen Ort eine Pfarrerin oder ein Pfarrer bei einer Trauerfeier hat. Es ist ein Ort zwischen Leben und Tod, zwischen den Toten und den Lebenden. Und an diesem rätselhaften Ort geht es um eine zweifache Aufgabe. Die Pfarrerin oder die Pfarrer muss den unwiederbringlichen Abschied, die Unausweichlichkeit des Todes mit behutsamen Worten zur Sprache bringen und er muss zugleich gegen den Tod protestieren. Er muss im Angesicht des Todes träumen, träumen von einem ewigen Leben. Und nur wenn beides glückt … wenn er sowohl die Dunkelheit hält, als auch das Licht verkündet, gelingt die Trauerfeier.
Ja, der Traum, den wir in unserem christlichen Glauben dem Abgrund des Todes entgegenhalten, hat nichts mit einer Träumerei oder einer billigen Vertröstung zu tun. Es geht nicht darum, einen großen Bogen um den Tod zu machen, vor ihm zu fliehen. Es geht vielmehr darum, ihn anzuschauen, um ihm etwas entgegenhalten zu können. Genau das geschieht übrigens auch, wenn wir uns dem innersten Kern des Christentums nähern, wenn wir das Kreuz Jesu betrachten. Denn auch das Kreuz trägt beides in sich, die Hoffnungslosigkeit und die Hoffnung, die Dunkelheit und das Licht.
Einerseits sehen wir im Angesicht des Kreuzes der Abgründigkeit des Todes ins Gesicht. Wir sehen nicht nur einen Menschen, der ohne jede Schuld ermordet wurde. Wir sehen nicht nur die unsagbare, menschenverachtende Verwundung Jesu. Wir sehen auch unsere eigene Verwundbarkeit und die Verwundbarkeit der Menschen, die wir lieben. Wir sehen also – wenn wir genau hinschauen – dass das Sterben Jesu immer auch ein Symbol für unser Sterben ist, dass sein Kreuz unser Kreuz ist und sein wird.
Aber das ist nur die eine, die dunkle Seite der Medaille. Es gibt auch noch eine zweite, lichtdurchflutete Seite. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir am Kreuz nämlich noch etwas anderes. Wir sehen, dass die Liebe stärker ist als der Tod, dass sie auf ewig aufersteht, komme was wolle. Ja, das Kreuz wird zu einer Art Kippbild. Es zeigt beides. Es zeigt die Unausweichlichkeit des Todes, es zeigt aber auch die Überwindung des Todes im Träumen und Glauben, im Lieben und Hoffen.
Liebe Gemeinde, ich habe eben schon gesagt … wenn dieser Tag, der Totensonntag genannt wird, einen tiefen Sinn hat, dann besteht dieser Sinn darin, dass wir mit vereinten Kräften protestieren sollen, dass wir gemeinsam versuchen sollen unserer Hoffnungslosigkeit eine Hoffnung, unserem Abgrund einen Traum entgegenzuhalten. Ja, heute fordere ich uns alle dazu auf, mit der ganzen Kraft unserer Liebe, aber auch mit der ganzen Kraft unserer Trauer, Wut und Verzweiflung, zu bedingungslosen Träumern zu werden. Zu sagen: Ich sehe den Abgrund des Todes, wie könnte ich ihn fortan nicht in Allem sehen … aber ich sehe auch den neuen Himmel und die neue Erde. Ich sehe einen Ort des unvergänglichen Trostes und der endlosen Geborgenheit. Ich spüre sogar, wie Gott unsere Tränen trocknet, wie er uns in den Arm nimmt und tröstet.
Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht.
Michel de Certeau (Mystische Fabel)